In alten Zeiten kaufte man Aktien und Schuldverschreibungen und nahm sie gern mit nach Hause. Dort ruhten sie im Tresor. Einmal im Jahr legte man den Kupon für Dividenden oder Zinsen an einem Bankschalter vor und ließ sich Bargeld auszahlen. So durfte der Wertpapiersparer ein sehr physisches Verhältnis zu seinen Ersparnissen pflegen und genießen.
Heute sieht er nur einen Eintrag im Depotauszug seiner Bank, die bei Fälligkeit Dividenden oder Zinsen bargeldlos gutschreibt. Über eine Kette von Rechtsbeziehungen weiß der Wertpapiersparer vage Bescheid: Man hat ihm ein ihm zustehenden indirektes Miteigentum an einer die Gesamtheit der Aktien oder Schuldverschreibungen verkörpernden Sammelurkunde erklärt. Er weiß nicht einmal, wie diese ihm mit gehörende Sammelurkunde aussieht und in welchem Tresor sie liegt. Die Effizienz ist da, die Freude am Physischen ist verflogen.
Bald werden die Verhältnisse noch abstrakter: Durch die Blockchain wird auch die Sammelurkunde und also auch jede Verwahrung überflüssig. Die Unternehmen werden papierlos „digitale Wertpapiere“ ausgeben. Diese werden in elektronischen „Blocks“ abgelegt, fälschungssicher auf eine Vielzahl von Festplatten gestreut und dort einheitlich registriert. Und weil digitale Wertpapiere sich leicht erkennen und bewegen lassen, ergeben sich neue Möglichkeiten der Automatisierung für den Handel mit diesen und für deren Übertragung.
Die Hochschule Luzern, die InCore Bank, Inventx, SIX, Swisscom, ti&m und die Zürcher Kantonalbank erkunden derzeit zusammen den Betrieb einer Plattform für den automatisierten Handel von nicht an der Börse notierten Aktien. Dazu gehört auch deren Abwicklung, also die Übertragung des Eigentums vom alten auf den neuen Aktionär und im umgekehrter Richtung die Zahlung des Preises vom Käufer an den Verkäufer. Die Grundlage ist eine Variante der schweizerischen Ethereum-Blockchain.
Das Ansetzen dieses Projekts bei nicht börslich gehandelten Werten ist nicht mit technischen Beschränkungen der Technik zu erklären. In diesem Bereich gibt es vielmehr weniger rechtliche Einschränkungen, die Technik kann leichter ihre Muskeln spielen lassen. Dies ist keine Initiative gegen den schweizerischen Gesetzgeber. Ganz im Gegenteil unterstützt die staatliche Kommission für Technologie und Innovation (KTI) den Vorstoß. Der Finanzplatz Schweiz verteidigt im internationalen Wettbewerb seinen Rang.
Nach dem Motto „THE TRADE IS THE SETTLEMENT“ stellte Overstock bereits im August 2015 bei einer NASDAQ-Veranstaltung eine integrierte Handels- und Abwicklungsplattform mit dem Namen „tØ“ (gesprochen „T zero“) vor: „If you buy it, you own it. It’s that simple.“
Im September 2016 hat Keystone, eine Wertpapierhandelsbank aus San Diego, mit einer Lizenz von tØ den praktischen Einsatz gewagt. Mit Zustimmung der SEC kamen elektronisch ausgegebene Aktien von Overstock über ein öffentliches Angebot in den Handel. Keystone setzt die tØ-Technologie für den Handel und zugleich für die Abwicklung ein.
Das liest sich noch wie ein mutiges Experiment. Jedoch der Umstand, dass die auf Vorsicht bedachte Aufsichtsbehörde ihren Segen gab, weist auf Ernsthaftigkeit.
In den Bereichen der Wertpapierleihe und des Handels mit Derivaten hat der Wandlungsprozess ebenfalls begonnen.
Die Initiativen in Kalifornien und in der Schweiz sind gut lesbare Zeichen an der Wand. Der Wertpapierhandel und das Abwicklungsgeschäft werden den Änderungsdruck spüren. Das Depotrecht und das Aufsichtsrecht mögen zwar den Wandlungsprozess verlangsamen. Der internationale Wettbewerb wird jedoch das Klima im Biotop des Finanzmarkts wandeln. Klimaschutzabkommen zum Schutz der bestehenden Verhältnisse wird es nicht geben.
Man mag versuchen, sich mit dem Gedanken zu trösten, dass der Mensch zumindest noch entscheiden darf, ob und zu welchen Bedingungen er Käufe oder Verkäufe tätigt. Auch hier übernehmen aber bald die dienstbeflissenen und immer hellwachen Robo-Advisors das Ruder. Der Mensch wird weiter steuern dürfen. Doch welchen Aufwand wird er treiben müssen, um sein Vermögen besser schützen und zu mehren als die mächtigen Maschinen es können?
Dr. Martin Bartels, LightFin